Anselm Weyers „Insel der Seligen“ erinnert an Kölner Kriminalfälle
„Insel der Seligen“ so erschien Köln nach dem Ersten Weltkrieg, als die britischen Besatzungssoldaten für Ordnung sorgten. In einer Zeit voller Umbrüche, wirtschaftlicher Instabilität, mit Inflation und der grassierenden spanischen Grippe, griffen Menschen in Köln, wie überall, auch zu illegalen Mitteln, um sich ein Stück vom Glück oder einfach ein erträgliches (Über-)Leben zu sichern. 23 Fälle stellt Anselm Weyer in seinem Werk gleichen Titels vor.
Das Buch basiert auf einer Artikelserie, die Weyer unter dem Obertitel „Babylon Köln“ für die „Kölnische Rundschau“ verfasste. Welcher Fernsehserie das Buch sein Entstehen verdankt, ist somit deutlich, aber die reißerische Präsentation von Glamour und Gewalt findet man dort nicht. Vielmehr erzählen die vorgestellten Kriminalfälle von den Leben der „kleinen Leute“, in denen sich die Welt- und die Kölner Geschichte spiegelt:
Am Ende des Ersten Weltkriegs setzt die Serie von Kriminalfällen ein: Zwei offenbar vom Kriegsdienst freigestellte Arbeiter erschießen einen Polizisten. Dieser hatte sie ertappt, als sie gestohlenes Schlachtfleisch durch das nächtliche Humboldt-Gremberg transportieren; ein Fall, wie er vermutlich aus purer Not tausendfach vorkam. (Kriegsbeben in Köln, 1918)
55.000 britische Soldaten brauchten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Köln unter britischer Besatzung stand, Unterkunft und Nahrung. Konflikte waren vorprogrammiert, auch wenn sich das Verhältnis zwischen Besatzungssoldaten und Bevölkerung insgesamt schnell entspannte. In “Unter Feinden“ erschießen junge Männer aus Stammheim einen britischen Soldaten, der es gewagt hatte, mit einem kölschen Mädchen anzubandeln. In „Finks Wert“ (1920) wiederum schießen britische Besatzungssoldaten einen Bürger grundlos nieder und werden nicht verurteilt. Die deutsche Polizei durfte bei derartigen Straftaten nicht tätig werden. Immerhin wurde der greise Vater des Opfers von den Briten finanziell entschädigt – auch dies nur dank eines couragierten sozialdemokratischen Polizeichefs in Köln. Leser*innen haben den traurigen Vorteil, den weiteren Verlauf der Geschichte zu kennen: Nur wenige Jahre später waren die 11.700 Mark, die der Vater als Entschädigung erhielt, dank Inflation höchstens noch einige Briefmarken wert.
Dramen in Stadt und Provinz
Not, Armut, seltener einfach Geldgier bilden den Hintergrund der meisten Geschichten: Zum Beispiel macht sich ein Dienstmädchen zur Komplizin ihres Verlobten, der mit zwei Kumpels in die Wohnung ihrer „Herrschaft“ einbricht. Dieser Einbruch endet für die Hausfrau tödlich, an der Beute hätten die Raubmörder Anfang 1923 auch nur wenig Freude gehabt. (Sterbewäsche für Witwe Erpelt, 1923). In „Obst und Verbrechen“ (1920) zeigt sich der Heumarkt, heute Touristen-Hotspot, als üble Ecke, nebenbei setzt es der ehemals dort befindlichen Markthalle ein Denkmal.
Menschliche Dramen spielten sich auch in Kölns Umgebung ab: Eine Grubenarbeitersgattin aus Brüggen stürzte sich in ein Verhältnis mit dem 18 Jahre jüngeren Kostgänger, mit dessen Hilfe sie den ungeliebten Gatten ermordet. Auch der Sohn hilft mit. Gestanden haben Mutter und Sohn aus Mangel an Beweisen „lediglich“ Totschlag, der Kostgänger geht aus Mangel an Beweisen straffrei aus. (Weibsteufelmilieu in Brüggen, 1919).
Urteile ohne Folgen?
Überhaupt werden von den geschilderten Fällen kaum Todesurteile berichtet. Selbst wenn sie verhängt wurden, wurden sie mehrfach nicht vollstreckt. In der Regel enden die einzelnen Geschichten mit der Mitteilung des Urteils. Was in einer Artikelserie kaum auffällt, wirkt gesammelt in einem Buch leicht eintönig. Eigentlich enden die“ Geschichten“ dort wo es spannend wird: Welche Nachwirkungen hatten die Taten auf die Leben von Täter*innen und Opfern, die ja oft selbst eine Familie hatten? Ist unter ihren Nachkommen, gut vier Generationen später, die Tat noch im Familiengedächtnis präsent? Welche Spuren hat sie hinterlassen? Ein spannendes Feld für die Familienforschung. Für Lokaljournalist*innen übersteigt der Zeitaufwand die in dieser Sparte üblichen Zeilenhonorare.
Rückblick auf Kunstskandale
Die Kölner Kunst- und Kulturszene, vor allem die Kölner Dada-Szene, bot der Presse reichlich Anlass für Skandale: Max Ernst und Johannes Theodor Baargeld stellten ihre vom Kölner Kunstgewerbemuseum zurückgewiesenen Exponate im Brauhaus Winter aus. Die Aufführung eines monarchistischen Stückes im Schauspielhaus störten eben denselben Dadaisten mit Verbündeten empfindlich und verhalfen Köln zu seinem Theaterskandal.
Banale Anfänge eines Massenmörders
Auch weitere Prominenz betritt die Bühne: Der Boxer Max Schmeling wird von seinem Manager Hugo Abels um die zwecks Existenzsicherung angeschaffte Eismaschine betrogen. Daraufhin hat er von Köln die „Nase voll“. Die bescheidenen Anfänge des späteren Nazi- Propagandaministers und Massenmörders Joseph Goebbels zeigt die Schilderung seines Kölner Jahres: Mitten in der Inflation lässt sich der promovierte Germanist und verhinderte Schriftsteller dort nieder, um eine verhasste Arbeit als Depotbuchhalter anzutreten. Bei Geldknappheit hilft die jüdische Freundin.
Insgesamt bietet das Bändchen eine kurzweilige, aber auch ernüchternde Lektüre zur Zwischenkriegszeit jenseits von Bubikopf- und Charleston-Romantik. Lediglich ein sorgfältigeres Korrekturlesen wäre ihm gut bekommen . Eine schöne Ergänzung sind die vorangestellten zeitgenössischen Fotos, die Kölner Alltag mit Besatzungssoldaten, Trauernden am Kriegerdenkmal und trister Erwerbsarbeit zeigen.
Anselm Weyer, Die Insel der Seligen. True Crime Köln 1918-1926, Broschur, ISBN 978-3-7743-0949-4, 176 Seiten, Format 12 x 20 cm
Annette von Czarnowski
Dieser Artikel enthält Links zu amazon.de. Bei Verkäufen über diesen Link erhält die Verfasserin eine Provision. Auf die Besprechung des genannten Buches hat dies keinen Einfluss.
Views: 1822