Anselm Weyer schildert Kriminalfall aus dem Ruhrgebiet
True-Crime-Stories haben Konjunktur, seit es das Genre gibt. Mit dem Hinweis „Wahrer Krimi“ unterstreicht der Autor Anselm Weyer bzw. der Greven-Verlag („Insel der Seligen“), dass bei seinem 2023 erschienenen „Wie die ruchlosen Brüder Heitger…“) nichts „hinzugedichtet“ wurde.
Dies scheint angesichts der geschilderten Dramen auch gar nicht nötig: Johann (Hans, 1904-1928) und Heinrich (Heinz, 1907-1928) Heitger, Arbeitersöhne aus dem Ruhrgebiet, unbescholten, gute Schüler und in der Nachbarschaft beliebt, gerieten in den Jahren 1927 und 1928 auf die „schiefe Bahn“. Ja, auch in der wirtschaftlich vergleichsweise stabilen Periode der Weimarer Republik zwischen 1924 und 1929, heute als die „Goldenen Zwanziger“ glorifiziert, gab es noch Arbeitslosigkeit und Armut. Nachdem sie sich von Gelegenheitsarbeit zu Gelegenheitsarbeit gehangelt hatten, siegte der Traum von einem besseren Leben und sie unternahmen gemeinsam mit ihrem gemeinsamen Freund Karl Lindemann den ersten Raubzug.
1927 überfielen sie mit einem gestohlenen Auto einen Mitarbeiter der Knappschaft in Essen-Byfang, der mit der Rentenkasse unterwegs war. Gegen alle „guten Vorsätze“ erschoss Hans Heitger den Mann. Eine mangelhaft ausgestattete Polizei setzte auf Hinweise aus der Bevölkerung und Belohnungen, was zu zahllosen unbrauchbaren Hinweisen führte, die die Polizei beschäftigten. Dennoch blieben die Brüder unentdeckt und eröffneten mit dem erbeuteten Geld ein Fuhrunternehmen. Mangel an unternehmerischer Erfahrung und Geschick führten zur Pleite und veranlassten das Trio, ergänzt durch den kleinkriminellen Vetter Willi Hübsche, 1928 zu einem Banküberfall in Gladbeck mit einem weiteren Todesopfer. Diesmal war Heinz Heitger der Todesschütze. Es folgte ein Untertauchen am Staffelsee in Bayern, wo sie es sich gutgehen ließen und der erfolgreiche Versuch, in München neue Pässe zu stehlen. Anschließend residierten sie in Köln, wo es zum filmreifen Showdown kam:
Polizeipannen in Köln
Ihr Vermieter zeigte sie an, es folgt eine abenteuerliche Flucht, auf den Fersen eine mangelhaft ausgestattete Polizei, sogar eine Kölner Straßenbahn wird „gekapert“. Beide schießen sich den Weg frei, weitere Todesopfer folgen. Heinz Heitger wird erschossen, Hans flüchtet in eine Riehler Villa. Die dilettantisch anmutenden Versuche der Polizei, ihn aus seinem Versteck „heraus zu sprengen“, wo er ohnehin bereits ohne Wasser und Verpflegung festsaß, wecken heute noch Kopfschütteln und Entsetzen. Schließlich wird er beim Einsatz von Handgranaten schwer verletzt und stirbt im Krankenhaus. Die Schilderung der Polizeieinsätze und der Pannen, die sogar der Autor mit den Worten kommentiert „ich würde es nicht wagen, mir eine solche Geschichte auszudenken“, sorgt abwechselnd für Gänsehaut, Haarsträuben und Gelächter.
Allerdings kann die Leser/in und Rezensent/in hier nur dem Autor vertrauen, dass er sich sorgfältig in die vorhandenen Quellen (Zeitungen, Gerichtsakten, Meldedaten?) vertieft hat. Dass er kein Quellenverzeichnis mitliefert, ist nicht zu beanstanden, weil er keinen wissenschaftlichen Anspruch verfolgt. Eingestreut sind ästhetische Reflexionen („Sind wir nicht in einem Western?“).
Die nacherzählten Geschehnisse in den Genrekontext „Western“ zu stellen, spricht die bildliche Phantasie der Lesenden an. Gattung- und Genrespezialisierte vermissen natürlich wesentliche Elemente – die Rolle der Landschaft, das Vordringen der westeuropäischen Zivilisation, ein mystischer Kampf Gut gegen Böse. Am ehesten ist noch Dr. Martin Gangulys Definition vom Western als „Genre der Bewegung“ nachzuvollziehen, schließlich mangelt es nicht an Verfolgungsjagden, Schläger- und Schießereien. Allenfalls ein Vergleich mit „The Spikes Gang“ („Vier Vögel am Galgen“), in dem drei mehr oder weniger naive Farmerssöhne auf die schiefe Bahn geraten, scheint noch angebracht. Allerdings fehlt hier der ältere „Mentor“, der das Trio letztlich ins Verderben stürzt.
Kriminelle oder Volkshelden?
Die Vereinnahmung der Gebrüder Heitger und ihrer Komplizen durch die zeitgenössische Linke, allen voran Erich Mühsam, als Robin-Hoods oder Kämpfer gegen das System scheitert daran, dass die Protagonisten in ihren Aktionen auch Angehörige der eigenen Klasse, kleine Leute wie die Rentenempfänger der Knappschaft, nicht verschonten.
Angesichts der zeitgenössischen Presseresonanz, die bis zur altehrwürdigen „Tante Voss“, der Vossischen Zeitung reichte, scheint es heute unverständlich,dass „einfache“ Einbrecher wie die Brüder Franz und Erich Sass es in das kollektive Gedächtnis geschafft haben, die Heitgers nicht. Erklären lässt sich dies eventuell . dadurch, dass die Brüder Sass mehr Raffinesse bei ihren Einbrüchen zeigten und in der Unterwelt gut vernetzt waren, während die Heitgers und ihre zwei Komplizen (Lindemann saß eine Gefängnisstrafe ab, Hübsch ebenfalls, aber blieb kriminell aktiv und wurde 1936 wegen Mordes hingerichtet) Einzelgänger blieben. Gemeinsam ist beiden, dass sie auch die Naziregierung noch auf Trab hielten. Das Werk schließt mit einer Betrachtung der Karriere des diensthabenden Richters, der für die Hinrichtung von Willi Hübsch verantwortlich war und auf dessen Konto in der NS-Zeit immerhin 61 Todesurteile gingen.Wer war da der größere Verbrecher?
Weyers Nacherzählung liest sich durchaus unterhaltend und lässt die Hoffnungen und Sorgen der Menschen im Arbeiter- und Kleinbürgermilieu lebendig werden. Zurück bleibt Melancholie angesichts der Vielzahl verschwendeter Leben und Talente von Menschen, die glaubten, das Leben könne ihnen mehr bieten als eine Wohnung in einer Zechensiedlung und die Aussicht, mit 50 an Staublunge zu erkranken.
(avc)
Der Text enthält Links zum Onlinenhandel Amazon.de. Bei Bestellung von Artikel über diese Links erhält die Autorin eine kleine Vergütung. Die Rezension wird dadurch nicht beeinflusst.
Anselm Weyer: Wie die ruchlosen Brüder Heitger und ihre Spießgesellen eine Blutspur durch halb Deutschland zogen. Wahrer Krimi
Festeinband mit Schutzumschlag
ISBN
978-3-7743-0956-2
234 Seiten
Format 11,5 x 18,5 cm
Views: 319